Die Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD) lässt auf sich warten. Das muss kein Nachteil sein, bietet der Aufschub doch die Chance für weitere Verbesserungen aus fachlicher Perspektive. Zudem stehen – im Rahmen des EPD und komplementär dazu – ärzteeigene Angebote bereit, die den medizinischen Nutzen ins Zentrum stellen.
Der folgende Beitrag der AD Swiss Verwaltungsräte Yvonne Gilli und Lucas Schult ist zuerst in der Schweizerischen Ärztezeitung 2020;101(43) erschienen.
Aktuell leben wir im Zeitalter der elektronischen Patientendossiers. Gemäss Bundesgesetz über das Elektronische Patientendossier (EPDG) müssten alle Akut- spitäler, Reha-Kliniken und stationären Psychiatrien seit dem 15. April 2020 das EPD anbieten. Eigentlich. Doch das EPD ist noch nicht operativ – voraussichtlich nicht vor 2021 – und darum ist auch noch wenig davon zu spüren ausser allenthalben Verunsicherung.
Dass sich der Start des EPD verzögert, liegt dem Vernehmen nach an der komplexen Zertifizierung der Stammgemeinschaften und der wohl nicht minder kniffligen Akkreditierung der Zertifizierer. Immerhin bietet der verzögerte Start die Chance, einige Kons- truktionsfehler des EPD quasi auf der Zielgeraden noch zu korrigieren [1].
Das Dossier des Patienten
Zunächst gilt es, mit einem Missverständnis aufzuräumen. Wie der Name schon sagt, wurde das EPD vom Gesetzgeber als Dossierder Patienten konzipiert[2]. Es soll den Patientinnen und Patienten die Souveränität über ihre Daten gewähren, welche bisher in den Aktenschränken und Computern der Leistungserbringer liegen – zwar wohl verwahrt, aber für die Patientinnen und Patienten intransparent und erschwert zugänglich. Das EPD soll ihnen die Möglichkeit geben, den Zugang zu ihren gesundheitsrelevanten Dokumenten selbst zu steuern, und sie befähigen, «die im EPD zugänglichen Informationen zu sichten, daraus Fragen abzuleiten und diese mit Fachpersonen zu klären» [3]. Die Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung ist denn auch eines der fünf gesundheitspolitischen Ziele in der Strategie eHealth Schweiz 2.0 [4].
Soweit so gut. Damit wird aber deutlich, dass das EPD als patientenzentriertes Sekundärsystem a priori kein Instrument für die Ärzteschaft ist. Das EPD umfasst denn auch keine auf Gesundheitsfachpersonen zugeschnittenen Zusatzdienste, keine strukturierten Daten, keine Tiefenintegration mit dem Primärsystem der Ärztin oder des Arztes [5]. Sogar die ungeregelte Finanzierung – gemäss eHealth Suisse müssen EPD-Anbieter «selbst eine tragfähige Finanzierung für das EPD finden»[6] – lässt sich so erklären.
Nutzen für Ärzteschaft und Patienten
Dieser Beitrag soll beileibe kein Plädoyer gegen ein patientenzentriertes EPD sein. Vielmehr wollen wir da- rauf hinweisen, dass das EPD den Patientinnen und Patienten erst den ersehnten Nutzen bringen wird, wenn es auch für die Gesundheitsfachpersonen einen Mehrwert generiert und z. B. durch erleichterte interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit einen positiven Einfluss auf die Qualität und die Effizienz der medizinischen Versorgung hat.
Die FMH hat in der Vergangenheit verschiedentlich darauf hingewiesen, dass das EPD für Leistungserbringer – zumindest im jetzigen Kleid – einen sehr beschränkten Nutzen haben wird. Jedoch müssen wir rückblickend konstatieren, dass die Ärzteschaft die Entwicklung des EPD lange von aussen beobachtet hat und Zeit brauchte, geeignete Instrumente der Mitgestaltung zu finden. Zusätzlich erschwerend ist die behördlich geführte «top down»-Umsetzung, in die praktizierende Ärzte und Ärztinnen weder in der strategischen noch in der operativen Führung eingebunden sind.
E-Health ohne ambulante Leistungserbringer?
Die erste Strategie eHealth Schweiz des Bundes von 2007 entwarf die Vision, dass die Bevölkerung mittels geeigneter Informatikmittel «im Gesundheitswesen den Fachleuten ihrer Wahl unabhängig von Ort und Zeit relevante Informationen über ihre Person zugänglich machen und Leistungen beziehen» sowie «sich aktiv an den Entscheidungen in Bezug auf ihr Gesundheitsverhalten und ihre Gesundheitsprobleme beteiligen» können solle. Darin ist unschwer der Kern des heutigen EPD zu erkennen. Wie die frei praktizierende Ärzteschaft in die neu entstehende System- und Prozesslandschaft eingebunden werden sollte, liess die Strategie offen.
Dabei zeichnete sich bereits seit der Jahrtausendwende zunehmend ab, dass in vielen von Kantonen oder Spitälern angestossenen E-Health-Projekten die Perspektive der ambulanten Leistungserbringer noch unterberücksichtigt blieb. Freischaffenden Ärztinnen und Ärzten drohte, zwischen Politik und IT eingeklemmt oder gar von der Entwicklung abgehängt zu werden. 2012 startete daher im Kanton St. Gallen mit «Ponte Vecchio» ein explorativer Modellversuch mit Managed-Care-Versicherten und dem Anwendungsfall «Austrittsbericht», bei welchem explizit auf ambulante Leistungserbringer fokussiert wurde. In diesem Rahmen wurde 2014 auch eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die klären sollte, welche Daten denn «behandlungsrelevant» sind (beim Austrittsbericht z. B. Wundberichte) – eine Frage, die uns auch heute noch beim EPD beschäftigt [7].
Eine Nasenlänge voraus wurde in der Romandie zur gleichen Zeit das bereits ambitiösere Pilotprojekt «e-toile» überführt in «MonDossierMedical». Heute bietet die Universität Genf für Ärztinnen und Ärzte bereits eine postgraduale Weiterbildung mit Masterabschluss in Medizininformatik an.
Von «Ponte Vecchio» zur AD Swiss
Das Versuchslabor «Ponte Vecchio» sollte auch zeigen, ob die ärzteeigene HIN in der Lage sei, eine E-Health-Basisinfrastruktur für die freie Ärzteschaft zu betreiben. Dass es eine solche brauchte, war und ist unbestritten, da entsprechende Investitionen von Einzel- oder Gruppenpraxen nicht allein gestemmt werden können [8]. Das Fazit aus «Ponte Vecchio», dass auch HIN eine solche Infrastruktur nicht ohne Partner aus dem Boden stampfen konnte, mündete schliesslich in die Gründung der AD Swiss mit dem Ziel, selbstbestimmt die ambulanten Leistungserbringer an der digitalen Zukunft teilhaben zu lassen.
Ebenfalls 2014 konstituierte sich auf Initiative der FMH die Interprofessionelle Arbeitsgruppe Elektronisches Patientendossier (IPAG EPD), nachdem die Erkenntnis gereift war, dass man sich nicht auf die technische Umsetzung verlassen wollte und man die Notwendigkeit erkannte, einen breit abgestützten fachlichen Input zum EPD leisten zu müssen. Die IPAG hat es sich zur Aufgabe gemacht, im Bereich E-Health die Bedürfnisse der unterschiedlichen Berufsgruppen aus acht Verbänden zu koordinieren, zu bündeln und mit gemeinsam getragenen Lösungen einen Beitrag zu einer nutzen- orientierten Einführung des EPD zu leisten. Dies durchaus mit Erfolg, wie etwa die Berichte zu eMedikation und eToC (Transition of Care) zeigen, die Ende 2015 an eHealth Suisse übergeben wurden [9].
Die Ärzteschaft kann und muss mitgestalten
Die genannten Beispiele (nebst vielen anderen) zeigen, dass die Ärzteschaft – sei es allein oder mit Partnern – massgeblich Einfluss nehmen kann. Das gilt ebenso für ambulante Leistungserbringer. Auch für freischaffende Ärztinnen und Ärzte ist eine Teilnahme am EPD daher – auch wenn vorderhand noch freiwillig – von Beginn weg möglich. Denn eine Teilnahme bringt ihnen nicht nur den damit verbundenen Wissensvorsprung, sondern eben auch die Möglichkeit der Mitgestaltung.
Wo Anwendungsfälle (z. B. eMediplan, eRezept) noch zu wenig an der Realität der praxisärztlichen Tätigkeit orientiert sind, arbeiten bereits heute Gremien aus Leistungserbringern und Primärsystemanbietern wie der entsprechende Arbeitskreis der AD Swiss an der Vereinfachung durch integrierte Anbindungen [10]. Darüber hinaus steht mit der AD Swiss EPD Gemeinschaft eine Gemeinschaft bereit, die einen niederschwelligen und kostengünstigen Zugang zum EPD und hilfreiche Zusatzdienste bietet. Die Gemeinschaft befindet sich derzeit wie alle (Stamm-)Gemeinschaften im Zertifizierungsprozess. Parallel dazu wird bspw. gerade die Brücke zur Romandie gebaut, sodass einer Zusammenarbeit der AD Swiss mit den Stammgemeinschaften nichts im Weg steht.
Unserer Ansicht nach können gerade Ärztinnen und Ärzte – auch im Interesse ihrer Patientinnen und Patienten und als deren Vertrauenspersonen – zu einer treibenden Kraft im Bereich E-Health werden, indem sie sich das EPD und/oder die komplementären «Zusatzdienste» als Instrument der ärztlichen Tätigkeit aneignen und die Entwicklung aus fachlicher Perspektive in die richtige Richtung lenken. Ob das EPD dereinst ein Erfolg wird, weiss niemand. Das Rad «E-Health» lässt sich jedoch nicht zurückdrehen. Die Ärzteschaft hat hier und jetzt die Chance, diese Entwicklung in ihrem Sinne zu gestalten.
Literatur
1 Yvonne Gilli: Verzögerung als Chance. Schweizerische Ärztezeitung 2020;101(36):1056 (DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2020.19184)
2 Der Zweckartikel des EPDG nennt neben Behandlungsqualität, Patientensicherheit und Effizienz explizit die Förderung der «Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten»: Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG) vom 19. Juni 2015 (Stand am 15. April 2020) (https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20111795/index.html)
3 Tania Weng-Bornholt, Urs Zanoni et al.: Whitepaper «Gesundheitskompetenz und das elektronische Patientendossier: Wie Stammgemeinschaften ein bürgernahes und nutzenorientiertes EPD fördern können». Aarau 2019 (https://www.e-health-suisse.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/2019/D/190527_Gesundheitskompetenz-EPD_Whitepaper_d.pdf)
4 Strategie eHealth Schweiz 2.0 2018 –2022. Ziele und Massnahmen von Bund und Kantonen zur Verbreitung des elektronischen Patientendossiers sowie zur Koordination der Digitalisierung rund um das elektronische Patientendossier. Bern 2018 (https://www.e-health-suisse.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/2018/D/181214_Strategie-eHealth-Suisse-2.0_d.pdf)
5 Die vom Gesetzgeber festgelegten Minimalanforderungen beziehen sich auf einen portalbasierten Zugang, d. h. eine Website. Dem gegenüber steht der Bedarf des Gesundheitspersonals einer Tiefenintegration mit den bestehenden Primärsystemen.
6 https://www.patientendossier.ch/de/gesundheitsfachpersonen/informationen/haeufige-fragen/was-kostet-das-epd (abgerufen am 29.09.2020)
7 Yvonne Gilli: Die Ärzteschaft in der EPD-Haftungsfalle? Schweizerische Ärztezeitung 2019;100(48):1600 (https://saez.ch/article/doi/saez.2019.18444)
8 Urs Stoffel: Für eine digitale Zukunft der Gemeinschaft der Ärztinnen und Ärzte. Schweizerische Ärztezeitung. 2014;95(33):1171 (DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2014.02896)
9 Gert Printzen: IPAG – Interprofessionelle Zusammenarbeit auch im Jahr des Affen. Schweizerische Ärztezeitung 2016;97(02):45 (DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2016.04350)
10 Die AD Swiss Community (ADSC) ist ein Zusammenschluss technischer, medizinischer und administrativer Dienstleister und Leistungserbringer. Der Verein versteht sich als Inkubator für die Umsetzung praktikabler Digitalisierungsvorhaben (https://www.ad-swiss.ch/verein-ad-swiss-community/).